Inselarzt auf Juist

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Dr. Paul Okot-Opiro ist seit 20 Jahren einer der beiden Inselärzte auf Juist und Tag und Nacht für die Patienten im Einsatz.

Auf Juist gehen die Uhren anders. Wer auf der autofreien Nordseeinsel mit den vielen Pferden ankommt, wird entschleunigt. Aber nicht nur die Zeit verläuft auf diesem wunderschönen Eiland langsamer, nein auch manch‘ andere Dinge sind hier einfach ein wenig anders als anderswo. Eine Patientin sagte vor vielen Jahren nach ihrem Arztbesuch verwirrt zur Apothekerin: „Der Arzt ist ganz schwarz und die Arzthelferin ist auch Ärztin.“ Lachend erzählt Dr. Paul Okot-Opiro diese Geschichte. Der Arzt, der ursprünglich aus Uganda stammt, fällt bis heute auf, obwohl er inzwischen seit 20 Jahren auf Töwerland – wie die Insel gerne genannt wird – lebt und durch seine humorvolle, direkte und anpackende Art nicht mehr von hier wegzudenken ist. 

Auf die Frage, wie er denn nach Juist gekommen sei, antwortet Dr. Paul Okot-Opiro: „Mit der Frisia, wie Sie!“ Er lacht. Dabei ist seine Geschichte bewegend. Als junger Mann musste Dr. Paul Okot-Opiro aus seinem Heimatland Uganda fliehen – dort herrschte Bürgerkrieg. Er ließ 1981 alles zurück und kam nach Hamburg, wo er von einer 4-köpfigen Familie aufgenommen wurde. Er bekam ein sechsmonatiges Sprachstipendium. „Schon damals hatte ich mein Ziel klar vor Augen, ich wollte Medizin studieren und den Menschen helfen“, berichtet er. Doch der Weg war steinig. Sein Abitur musste der damalige Schüler noch einmal in Deutschland nachmachen, bevor es zum Studium nach Kiel ging, wo er auch promiviert hat. Dann hat es ihn erst etwas weiter in den Süden verschlagen. „In Bad Brückenau habe ich Erfahrungen gesammelt und in Bad Sulzfeld die Weiterbildung zum Allgemeinmediziner gemacht“, erinnert sich der heutige Inselarzt zurück. Alles gar nicht so einfach als Flüchtling ohne Staatszugehörigkeit. 2000 wurde er schließlich eingebürgert und trat eine Facharztstelle in einer Neuro-Otologischen Klinik in Bad Arolsen an, wo er seine Frau Dr. Heike Göttlicher kennenlernte. 

„Sie war meine Chefin“, schmunzelt er. Heute ist es andersherum. Die Stelle des Allgemeinmediziners auf Juist hat Dr. Paul Okot-Opiro inne, seine Frau ist die gute Seele der Praxis, managed alles Administrative und steht den Patienten bei Fragen zur Seite. Die beiden sind ein Team, das sicher nicht nur die Liebe zur Medizin, sondern auch die Liebe zum Töwerland verbindet. Was Juist für Dr. Paul Okot-Opiro und seine Frau bis heute bedeutet, ist pures Glück.

„Diese Insel mit seinem wunderschönen Sandstrand ist ein Traum, unser kleines Paradies auf Erden.“
– Dr. Paul Okot-Opiro 

Aller Anfang war schwer

Für diesen Traum haben die beiden gekämpft. Der Kliniktrott war nicht die Erfüllung, die sich der heutige Inselarzt erhofft hat. „Ich wollte nah am Patienten sein und noch Medizin machen, wie sie ursprünglich war, das heißt mit allen Sinnen und wenig Apparatur, eben so wie im tiefsten Dschungel“, betont er. Wo könne man das in Deutschland? Dieser Frage stellte sich das junge Paar damals und die Antwort war schnell gefunden: auf einer ostfriesischen Insel. Dr. Heike Göttlicher war seit den Urlauben in ihrer Kindheit verbunden mit dieser wunderschönen Region Norddeutschlands. Da lag für die beiden Ärzte die Überlegung nahe, sich auf einer Insel niederzulassen. Auch Langeoog, Spiekeroog und Baltrum waren mit im Rennen, doch gab es in der Zeit dort keinen freien Arztsitz. „Auf Juist war dies anders. Hier gab es keine Beschränkung“, erinnert sich Dr. Heike Göttlicher. „Wir konnten eine Zulassung beantragen und mussten dann innerhalb von drei Monaten eine Praxis eröffnen.“ Doch passende Räumlichkeiten zu finden, war eine absolute Herausforderung. Beinahe wäre die Praxis unter der Polizeiwache gelandet, doch bei der Vertragsunterzeichnung poppte ein Schimmelskandal in der Wohnung hoch. „Wir nahmen Abstand von den Räumlichkeiten und suchten auf Hochtouren weiter“, erinnert sich Dr. Paul Okot-Opiro an diese turbulente Zeit. Schließlich kamen sie mit dem Kurhaus, dem größten Hotel auf der Insel  an der Strandpromenade, ins Gespräch. „Der damalige Direktor fand die Idee, einen Arzt im Haus zu haben, attraktiv und bot uns im Erdgeschoß – zunächst auf der Westseite des Gebäudes – zwei Räume an“, berichtet der Inselarzt weiter. So wurde der Traum von der eigenen Praxis für das Arztehepaar 2003 wahr. Bis heute befindet sich die Praxis im Erdgeschoß des ehemaligen Kurhauses, dem jetzigen Strandhotel, allerdings nun in lichtdurchfluteten Räumen auf der Ostseite.

Immer einsatzbereit

Dr. Paul Okot-Opiro ist immer im Einsatz – in seiner Praxis oder im Bereitschaftsdienst, als Notarzt oder bei Hausbesuchen. Freizeit bleibt da wenig. „Wir arbeiten, wenn andere Urlaub machen“, sagt er lachend. 

Wer die Praxis an der Strandpromenade 1 betritt, merkt sofort, dass hier etwas anders ist. Es gibt keinen Empfangstresen, der Patient steht direkt im Wartezimmer mit einer fünf Meter hohen Decke, gemalten Bildern an den Wänden und einer Kinderspielecke. Hell, warm und freundlich wird er hier begrüßt. „Unser Wartezimmer soll eher an ein Wohnzimmer erinnern als an einen Wartebereich beim Arzt“, betont die Praxismanagerin. Es lädt zum Verweilen ein, und dauert es mal länger, bewirtet Dr. Heike Göttlicher die wartenden Patienten mit Tee und Kaffee. Gerade in der Hauptsaison müssen Patienten ein wenig Zeit mitbringen, denn bei Dr. Paul Okot-Opiro gibt es keine Termine. Als eine Patientin einmal hereinkam und verkündete, dass sie privatversichert sei, antwortete der Inselarzt humorvoll: „Danke, Sie zahlen gut, aber setzen Sie sich, Sie kommen der Reihe nach dran.“ Er lebt seinen Job, nimmt sich Zeit für alle Patienten und hat immer ein freundliches Wort auf den Lippen – niemand wird bevorzugt.

In der „Gute-Laune-Praxis“ – wie sie sich selbst nennen – sind auch kleine Patienten immer herzlich wilkommen. Angst vorm Doktor muss hier niemand haben. Der stets fröhliche Inselarzt lacht gerne, laut und und viel. Das wikrt meist ansteckend. Und falls sich doch ein mulmiges Gefühl im Bauch einschleicht, hilft die Arzthelferin, eine Handpuppe namens „Ilona“, gerne aus.

Dann schmilzt das Eis ganz schnell. „Manchmal muss man allerdings erst die Eltern behandeln, bevor man sich den Kindern annimmt“, lacht Dr. Paul Okot-Opiro, als er von einem jungen Paar berichtet, das abends verzweifelt mit seinem unentwegt schreienden acht Monate alten Kind bei ihm in der Praxis stand. „Das Kind spürte, das seine Eltern zur Party wollten und deshalb wollte es nicht einschlafen“, erzählt der Vater zweier Töchter amüsiert. 

Aber nicht immer war die Behandlung so einfach. Als es für einen Patienten um Leben und Tod ging, begleitete Dr. Paul Okot-Opiro diesen bei Wind und Wetter aufs Festland. Er selbst kam später kaum mehr zurück. Das Rettungsboot von Norderney, das ihn zurückbringen sollte, setzte den damals noch jungen und erst kurz zuvor auf die Insel gekommenen Arzt bei Schneesturm am Ostende ab. „Ich war sehr beunruhigt, da ich nichts von meinem Mann gehört hatte und forschte nach“, erinnert sich seine Frau an diesen Abend im Winter 2004. „Als ich hörte, dass sie ihn nachts am Kalfamer abgesetzt hatten, und er im Morgengrauen nicht zurückkam, wurde ein Hubschrauber alamiert. Diese Nacht werde ich nie vergessen.“ Sie hat sich dann selbst mit dem Auto auf die Suche nach ihrem Mann gemacht. Die beiden Inselärzte sind nebem dem Rettungswagen die Einzigen, die auf der sonst autofreien Insel, ein Auto haben. Sie fand ihn durchgefroren, schlickverschmiert und geschwächt von einem langen Fußmarsch kurz vorm Flugplatz und brachte ihn wohlbehalten nach Hause. 

Herausforderungen inbegriffen

Wer auf Juist Fuß fassen will, hat es anfangs schwer. Das wissen Dr. Paul Okot-Opiro und seine Frau aus eigener Erfahrung. „Vor allem die damaligen beiden anderen Inselärzte haben uns das Leben anfangs schwer gemacht“, erinnert sich das Arztehepaar zurück. Die Palette reichte von Anfeindungen bis hin zu zerstochenen Autoreifen. Der Höhepunkt wurde erreicht, als Dr. Paul Okot-Opiro einem Patienten nach einem Sturz mit einem gebrochenen Bein erste Hilfe leistete, und dieser ihn trotzdem übelst beschimpfte. Rückblickend kann das Ehepaar diese Begebenheiten mit einem lachenden und einem weinenden Auge erzählen, doch damals war es für die beiden schlimm. „Wir wollten doch nur helfen“, sagt der Inselarzt, der die damaligen Reaktionen weder verstehen noch nachvollziehen kann.

Heute gehört er fest zum Kreis der Insulaner, bekommt bei Hausbesuchen Tee und Kekse und hat immer Zeit für einen kurzen Schnack. Mit seinem Afrika-Fest, das seit 10 Jahren jedes Jahr im Sommer auf Juist stattfindet, hat er ein Stück seines Heimatlandes auf die ostfriesische Insel gebracht. „Dann schnippelt mein Mann stundenlang Bohnen“, berichtet seine Frau lächelnd. Für 100 Liter Ugandische Bohnensuppe müssen viele Kilogramm Bohnen sortiert und gekocht werden. Das Rezept wird nicht verraten. Einmal im Jahr kocht der Inselarzt höchstpersönlich sein ganz spezielles Lieblingsgericht für Einheimische und Touristen – dann bleibt die Praxis geschlossen und alle finden sich am Schiffchenteich zum Feiern ein. Am 22. Juli 2023 ist es wieder soweit. Neben der Bohnensuppe gibt es eine Tombola, für die Dr. Paul Okot-Opiro regelmäßig Spenden bei den ortsansässigen Geschäften für diesen besonderen Anlass sammelt. Der Erlös dient der guten Sache: der Stiftung für Ugandische Kinder, die der Inselarzt bereits 2006 ins Leben gerufen hat und für die er sich mit ganzem Herzen einsetzt.

Pandemie auf Juist

Eingesetzt hat sich Dr. Paul Okot-Opiro besonders in der Coronazeit für die Gesundheit der Menschen. Der Lockdown kam kurz vor Ostern 2020. Sämtliche Touristen mussten kurzfristig die Insel verlassen und auf einmal war Juist – inmitten der Hochsaison – leer. Ungewohnt war das. Wie viele Insulaner erinnert sich das Arztehepaar gerade an den Beginn der Pandemie noch gut. „Wir sind am Ostermontag bei strahlendem Sonnenschein am Strand spazieren gegangen“, berichtet der Inselarzt lächelnd. „Das war vorher noch nie vorgekommen.“

Manchmal bin ich etwas unbequem, weil ich meine Meinung sage und unkonventionelle Wege gehe.
– Dr. Paul Okot-Opiro

Die Phase nach dem Lockdown gestaltete sich abwechslungsreich. Es gab zahlreiche Auflagen zu beachten. „Schlimm war vor allem, dass die Wirtschaft eine größere Rolle spielte als die Medizin“, so der Inselarzt, der sich enttäuscht vom Verhalten der Politiker in der Coronazeit zeigt. Abstriche wurden im Testzentrum nicht richtig durchgeführt, Geräte zur Testauswertung durften nicht angeschafft und Proben nicht mit dem Fluzeug transportiert werden. Der Postweg oder der mit dem Schiff war zu lang. All dies erzählt er kopfschüttelnd und immer noch fassungslos. Dazu kam das Maskenthema auf der Fähre, Streitigkeiten mit dem Bürgermeister und Diskussionen mit dem Gesundheitsamt. Den Höhepunkt bildete dann die Verlegung eines schwerkranken Covid-Patienten von der Insel. Der Zustand war kritisch und ein Transportmittel nicht zu finden. Sieben Stunden wurde Dr. Paul Okot-Opiro immer wieder vertröstet, bis er schließlich bei der Polizei anrief und Anzeige erstattete. Dann kam der Hubschrauber endlich. „Manchmal bin ich etwas unbequem, weil ich meine Meinung sage und unkonventionelle Wege gehe“, sagt er mit verschmitztem Blick. 

Ein bisschen Zeit…

Trotz aller Hürden und Hindernisse war seine Entscheidung für Juist die Richtige. Hat der Inselarzt ein wenig Freizeit, dann kocht er gerne aufwändig – mal Fisch oder Juister Reh, fährt Fahrrad oder ist einfach nur faul. Besonders genießt der naturverbundene „Fast-Insulaner“ unbeschwerte lange Spaziergänge am Meer mit seiner Familie. „Ich suche gerne Bernstein und tatsächlich habe ich mal ein prächtiges Exemplar gefunden. Das hat mich sehr glücklich gemacht“, blickt er zurück. Und glücklich ist er jeden Tag darüber, auf diesem traumhaften Eiland leben, arbeiten und vor allem helfen zu dürfen.

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